Beim Erzengel
Mittwoch, August 17, 2005
  Urlaub .

Wir fahren weg. Mit ungekämmten Haaren verlassen wir die unaufgeräumten Schreibtische. Vergessen.

In der Wohnung ist die Luft rein. Gestern wurde die Lüftungsanlage im Haus gewartet. Und in jeder Wohnung das Abzugsloch in Bad und Küche gereinigt. Die Abzugshaube abgestaubt. Mit weißem Kunststoff ausgelegt. In der Küche mit einem Metallgeflecht. Damit die Stichflamme aus der Bratpfanne nicht durch den Lüftungsschacht unser ganzes Orwellhaus in Brand setzt. Eine tröstliche Aussage. Den Mann, der sie traf, kenne ich. Er kommt alle Jahre wieder. Immer mitten im August. Wenn alle Nachbarn im Urlaub sind. Er erklärt mir immer wieder mit den gleichen Worten die Wirkung der Lüftungsanlage. Der Schaumstoff, den er auswechselt, ist immer schwarz. Da passiert gar nichts mehr. Sagt der Mann mit der blauen Latzhose. Das ist so, wie wenn Sie das Ding mit Klebstreifen zukleben. Besonders schlimm - seine Zunge löst sich immer nach diesem Punkt - sei das in Wohnungen mit jungen Mädchen. Was soll das heißen? Er strahlt mich an. Ich bin eine alte Frau. Die jungen Mädchen brauchen Haarspray. Ach, sage ich verdutzt. Ist das nicht längst vorbei? Der Spray verklebt den Schaumstoff. Denn die Lüftung saugt das Zeug aus der Luft. Alle sechs Stunden wird die Luft in der Wohnung umgewälzt. Das ist mir zu kompliziert. Sage ich ihm jedesmal. Und er überreicht mir mit einer leichten Verbeugung einen Ersatzschaumstoffstreifen. Gegen Weihnachten, empfiehlt er, auswechseln. Was ich dann auch brav tue. Gestern war er besonders gut gelaunt. Denn die Arbeit kam zwei Stunden früher als geplant zu ihrem Ende und die Männer ins Erdgeschoss. Sag ich doch, beharre ich, alle Jahre wieder, dies ist die ungünstigste Zeit im Jahr für eine Lüftungswartung. Er lacht. Zweiunddreißigtausend. Zweiunddreißigtausend Wohnungen würde er im Jahr "machen". Da kann keine Rücksicht auf Jahreszeit genommen werden. Er verlässt mit erhobenem Zeigefinger meinen Flur. Und meine unfertigen Gedanken. Und meine unausgesprochenen Fragen. Und die unabgestaubten Bücher an den Wänden.

Wir fliegen auf die Insel. In Glasgow soll am Freitag die Sonne scheinen. Ich nehme keinen Regenschirm mit. 
Sonntag, August 14, 2005
  Sonntagsgruß 2 .

Kurz nach Mitternacht. Ich liege im Bett und höre Nachrichten. Ich warte auf das Wetter. Nach dem Wetter lasse ich noch ein paar Minuten verstreichen und das Nachmitternachtsprogramm anlaufen. Bis im Norddeutschen Rundfunk die Wasserstandsberichte heruntergebetet worden sind. Dann rufe ich, wie immer, W. an.

Das Wahlkampfgeschrei eines angeblich „süddeutschen Separatisten“ läßt mich kalt, auch die aufgebrachten Reaktionen darauf. Das betrifft mich nicht. Das Wort „Separatist“ holt aus meinem müden Kopf leider Bilder aus meinem sauberen Heimatland hervor. Grüne Hügel und Pferdeherden. Die Schweizer Separatisten waren Jurassier. Ihnen gelang es, lang ist’s her, sich vom Kanton Bern loszusagen und ihren eigenen Kanton Jura zu gründen. Dadurch entstand eine „bernische Enklave“ – das Laufental. Weitab von Bern, umspült von den Kantonen Jura und Solothurn, dem Halbkanton Baselland und, einem winzigen Streifen Landesgrenze entlang, Frankreich. Zwanzig Jahre nach der Gründung des Kantons Jura schloss sich das verlorene Laufental endlich dem Halbkanton Baselland an. Separatisten sorgen für Rochaden in einem eigentlich festen Gefüge. Der Halbkanton Baselland, in dessen Kantonshauptstadt ich aufgewachsen bin, kann als einziger der 26 sogenannten helvetischen souveränen Einzelstaaten innerhalb der seit 1815 unverändert gebliebenen Landesgrenzen einen Gebietszuwachs (von immerhin 21 %, die Hälfte davon Wald) verzeichnen, ohne Anwendung von Gewalt, ohne Blutvergießen, auf dem Weg einer praktizierten Demokratie. Die Meldung, von der Nachrichtensprecherin mit unverändert emotionsloser Stimme vorgetragen, dass Erika Steinbach ihr umstrittenes Zentrum gegen Vertreibungen in der St. Michael Kirche in Berlin Mitte unterbringen will, reißt mich aus meinen Kinderträumen. Dass dafür das seit 60 Jahren zerstörte Mittelschiff wieder aufgebaut werden soll. Und der Pfarrer, für den zu DDR-Zeiten in Plattenbaumanier eine Wohnung an die erhalten gebliebene Wand des „Querhauses“ geklatscht wurde, vertrieben. Der heutige Tagesspiegel zitiert einen Bistumssprecher: „Solange es sich um eine entwidmete Kirche handelt, ist aus Sicht des Bistums eine Nutzung als Gedenkort vorstellbar“. Heute früh beim Tai Chi hörte ich die Gemeinde singen und beten. Bis vor wenigen Monaten wurden hier auch Gottesdienste in polnischer Sprache abgehalten. Eine polnische Gemeinde hatte es hier immer gegeben. Seit dem Bau der Kirche. Seit der Eröffnung der Kirche. Seit dem Bau der Mauer. Seit dem Fall der Mauer. Der Engel auf dem Glockenturm ist unter anderem der Patron des Deutschen Volkes. Auf dem Ostpreußentreffen im Mai soll Erika Steinbach verkündete haben, man habe eine „wunderschöne Immobilie“ gefunden. Eine Kriegsruine aus rotem Backstein, die jahrzehntelang am Rande des Todesstreifens stand. Neben einem klobigen Wachturm. Niemand kam je auf die Idee, das Mittelschiff für lebende Menschen wieder aufzubauen. Das Plattenpfarrhaus ist Gott sei Dank von außen nicht zu sehen. Und jetzt, wo Schwäne im Engelbecken heranwachsen, die Reiher sich mit den Enten arrangieren, das Schilf in den Himmel schiesst und im Café am Engelbecken bei schönem Wetter sich die ganze Welt trifft, jetzt soll die Kirche als „Zentrum gegen Vertreibungen“ wieder rekonstruiert werden?

W. hat sich die Zeiten des Ostseehochwassers gemerkt. Er erzählt mir, wie immer, eine Gutenachtgeschichte. Ich falle augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Ich träume, dass ich in Krakau mein Zimmer beziehe. 

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger