Beim Erzengel
Donnerstag, Juli 14, 2005
  Strandpartie .

Berlin ist auf Sand gebaut. Auf rieselnden märkischen Sand. Berlin hat keinen festen Untergrund. Berlin ist offen und reich an natürlichen Sandstränden. An vielen fließenden und stehenden Gewässern. Natürlichen Strandbars und Badeseen. Angefangen vom Großen Wannsee und Großen Müggelsee im Süden bis hin zum Plötzensee, Weißen See, Schäfersee, Waldsee, Heiligensee, Hubertussee, Malchower See, Laßzinssee, dem Badesee Arkenberge und wie sie alle heißen. Stecken überall Füße im Sand.

Trotzdem wurden diesen Sommer ein paar hundert Tonnen Sand in die historische Mitte Berlins gekarrt. Eineinhalb Meter hoch aufgeschüttet auf dem leeren Platz vor dem asbestbesetzten Palast der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Ausgerechnet hier musste die diesjährige Beachvolleyball-Weltmeisterschaft stattfinden. Mit Blick auf den Berliner Dom, den Lustgarten, einen Springbrunnen (immerhin), auf das alte Museum, eine oder zwei echte Schinkelkirchen und auf die unzerstörbare Fassade eines Hauptstadtrepräsentationsbaus eines nicht mehr existierenden Staates. Umtost vom Berliner öffentlichen und privaten Verkehr.

Es ist zur Mode geworden, im Sommer Lastwagenweise Sand in Europas Großstädte zu kippen. Während der Großen Ferien sperren fürsorgliche Stadtväter mehrspurige Schnellstraßen im Zentrum, möglichst am Fluss entlang führende natürlich, und bauen den Daheimgebliebenen einen kilometerlangen Sandstrand vor die Nase. Mit allem was dazugehört, Liegestühlen, Hängematten, Sonnenschirmen, Brunnen mit Trinkwasser, meterlangen Wasserzerstäubern, Spielplätzen, Kletterwänden, Boules-Feldern, Promenaden, Kuss-Alleen, Cajpirinja-Buden, Sand und Palmen. So verwandelt sich in Paris die Schnellstraße „Georges Pompidou“ am rechten Seine-Ufer, gegenüber der Ile-de-la-Cité, auf 3,5 Kilometern in „Paris Plage“. In Brüssel nennt sich der Stadtstrand an der Senne lapidar „Bruxelles les bains“. In Prag wird Sand entlang der Moldau im südwestlich gelegenen Stadtviertel Smichov verteilt. Wien besitzt auf der Donauinsel den längsten natürlichen Stadtbadestrand (42 Kilometer) innerhalb einer europäischen Großstadt. An der Alten Donau können sich zudem Nudisten auf mehreren zusätzlichen Kilometern im Sand ausbreiten. Rom schüttet auf bescheidenen 180 Metern Länge und sechs Metern Breite Fluss-Sand hinter der Piazza Navona am Tiber auf, rechts und links des „Ponte Umberto I.“ Und so weiter und so fort.

Menschen aus richtigen Sonnenländern lachen sich halbtot. Ihre Flüsse vertrocknen im Sommer. Und die Mittagspause verbringen sie lieber hinter geschlossenen Fensterläden. Umweltforscher warnen vor Turbulenzen im solaren Magnetfeld und irdischen Löchern in der Ozonschicht. Und Dermatologen haben herausgefunden, dass fast alle Sonnenschutzmittel schädlich sind.

Die Berliner schert das wenig. Millionenteure Sandanschaffungsmassnahmen kann sich die Stadt eh nicht leisten. Und ein verordnetes Stadtstrandleben mit Öffnungszeiten, Eintrittsgeldern, Absperrungen, Badetaschenkontrollen, Sichtblenden, Glasflaschenverbot und Abendkonzerten hat hier keine Chance. Ein paar Kübel Sand reichten aus, um unter den Fenstern des Bundeskanzleramtes den Bundespressestrand zu eröffnen. Wer seinen nackten Bauch in die Sonne streckt, trägt erwiesenermaßen keinen Sprengstoffrucksack auf dem Buckel. Das wussten schon die Erbauer des asbestverseuchten Palastes der ehemaligen Republik: nackte Menschen in diesem Land sind harmloser sind angezogene. Und so schießen sie aus dem märkischen Sand wie Brennesseln, die Beach Bars und Playa Paradiese King Kameamea, Cocktailfactory Zeitlos, Oranke Orange, Karma Beach, Heinz Minki, Europabar am Oststrand, Freischwimmer und wie sie alle heißen. Früher (letztes Jahr oder vorletztes) war es noch so, etwa in der Strandbar Mitte, dass „voll“ war, wenn alle Liegestühle besetzt waren. Heute hockt man sich unbekümmert in den Sand. Auf das verdorrte Gras. Auf harte Ufersteine. Die neuen Strandbars duften wie eine Alpwiese. Sie kennen keinen Konsumzwang. Keinen Liegestuhlzwang. Keinen Tischplatzzwang. Man darf sich selbst bedienen an den vorhandenen Bars. Jeder kann aber seine eigene Kiste Bier mitbringen. Kindergeburtstag feiern. Torte aufschneiden. Ferkel braten. Sand ist meist irgendwo noch vorhanden, aber längst nicht mehr einzig identitätsstiftend für das Berliner „Füße-in-den-Sand-stecken“-Gefühl. Im Kiki Blofeld an der Köpenicker Straße hinter dem Autohändlerhof hängen Kristalllüster in den Bäumen. Stehen schwere Designer Möbel auf dem Dach eines Bootsunterstandes. Unten kann man, wenn es regnet und die Spree nicht gerade Hochwasser führt, in Plüschsesseln versinken oder auf roten Teppichen wandeln. 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger