Beim Erzengel
Dienstag, Juli 19, 2005
  Das zweiäugige Pferd
Mein Großvater Paul hat mein einäugiges Pferd geheilt. Mit sicheren Fingern. Warmer Hohlhand. Geduld. Und oberaargauischberndeutschem Gemurmel. Das Stirnfellhaar fiel allmählich aus. Die Haut über dem neugierig springenden Augapfel wurde fahl und spröde. Paul schmierte sie täglich mit Hirschtalg ein. Und beugte so Verletzungen der Kranzgefäße vor. Die Stirn durfte nicht platzen. Die Äderchen nicht bluten. Die Haut musste weichen. Und als erstes stacheligen Pferdewimpern Platz machen. Als der glänzende Augapfel hervortrat, dunkelbraun und unergründlich, schlug das Pferd erschrocken aus und galoppierte davon.

Das zweiäugige Pferd vollführt wilde Sprünge. Seine Welt hat sich geweitet wie der untere Stirnhautlappen. Es ist rücksichtslos und schreckhaft geworden. Es wirft seinen alten Pfleger immer wieder ab. Undankbar und verwundert. Seit es mehr sieht, hört es weniger. Die Morgenritte sind Paul nicht mehr zuzumuten. Das Pferd scheut bei allen Überraschungen, auch jenen, die von links kommen. Der Rücken meines Großvaters ist krank. Die Kraft seiner Hände erschöpft.

Die Welt ist wie ein Buch und hat mehr als zwei Seiten. Mein Pferd ist umgezogen. Und stampft nun ungeduldig in seiner Koppel in Schönefeld. Sonja berichtet, die Felder seien bereits abgeerntet. Viel Platz zum Traben vorhanden. Die anderen Pferde allerdings, obwohl aus Island, Irland, Tirol, Russland, Polen und allen deutschen Bundesländern, verhielten sich zickig gegenüber dem Zugereisten.

Warum soll es Pferden besser ergehen als Menschen? Das Leben ist eine rein sprachliche Angelegenheit. Mein zweiäugiges Pferd muss im Chor wiehern lernen. Ich muss reiten lernen und mich um die gebrochenen Knochen meines Großvaters kümmern. Kürzlich fragte mich die Verkäuferin am Brotstand bei Kaiser’s, woher ich denn käme. Ich kaufe seit sechs Jahren hier mein täglich Brot. Denke ich. Unlauterer Wettbewerb. Aus Bayern? Sie lacht und ist am frühen Morgen bereits bestens gelaunt. Weil viele Menschen anstehen, die noch nicht gefrühstückt haben. Die frischen Schrippen purzeln brennendheiß aus dem Ofen. Die Papiertüten, in die sie gesteckt werden, verglühen auf der Stelle. Seit neuestem müssen wir Spitzbrötchen verlangen. An der Brottheke bei Kaiser’s. Es wimmelt hier von Zugezogenen. In der ehemaligen Luisenstadt. Es hängt nur von der Aussprache ab, ob wir verhungern oder nicht.

Mein zweiäugiges Pferd ist in Schönefeld angekommen. Mein Großvater in Pennsylvania braucht Zuspruch. 
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